Als uns der Wiesbadener Intendant Uwe-Eric Laufenberg Ende September 2021 zu einer internen Besprechung bat und uns sagte, dass wir im November mit TYLL zum 2. Internationalen Theaterfestival im Irak eingeladen wären, waren die Reaktionen im Ensemble gespalten: die Einen so: „Wie geil!“, die Anderen eher stark zweifelnd. Ich gehörte zur zweiten Gruppe, ich dachte, dass wir unter den gegebenen Umständen unseren visuell, akustisch und bühnentechnisch doch anspruchsvollen Theaterabend nur „abgespeckt“ zeigen könnten, und dann der Zauber verloren geht. Denn unser Bühnenbild konnten wir auf keinen Fall mitnehmen, es würde vor Ort soweit es geht nachgebaut werden. Unser Ansprechpartner, der kurdische Regisseur und Schauspieler Ihsan Othmann hatte auf die Fragen der Zweifler und Zauderer meistens folgende Antwort: „Da wird einiges improvisiert werden müssen; das machen wir schon möglich; keine Ahnung, ob das geht.“ Wir spielen auf nassem Torf: „Wir haben Sand“, wir brauchen schwer hängende bemalbare Papierbahnen in sieben Zügen: „Papier gibt’s natürlich im Irak, was denkt ihr denn? Aufhängungen wird’s allerdings nicht so viele geben.“ Was ist mit der Technik: „Naja, die ist auf dem Stand von 1975. Falls sie funktioniert.“
Weil ich mit dem Regisseur Tilo Nest die Theaterfassung von Kehlmanns Erfolgsroman TYLL geschrieben hatte und auch von Anfang an bei der Konzeption mit im Boot war, liegt mir unser TYLL sehr am Herzen. Von Zuschauerreaktionen wusste ich, wie überwältigt und bewegt das Publikum auf unserem Abend reagiert, ich glaubte, der Anwalt des Regisseurs sein zu müssen und meinte, wenn wir das nicht einszueins transportieren könnten, brauchten wir gar nicht anzutreten, weil es dann irgendwie deutsches Sprechtheater (vielleicht sogar ohne komplettes Kostüm, ohne Toneinspieler?) in einem arabischen Land würde, wer will das sehen, wer soll das verstehen? Die nächste Ansage war dann: ihr müsst kürzen, und ihr könnt keine Pause machen, die Leute denken sonst, es ist zu Ende und gehen nach Hause. Hat mich auch nicht gerade überzeugt. Der Intendant war der Meinung – stark verkürzt – „Ihr Schauspieler tragt das mit eurem Spiel, ihr könnt das auch im Trainingsanzug rüberbringen, Hauptsache der Lappen geht hoch.“ Das fand ich doch sehr leichtfertig. Dazu mischten sich meine Bedenken in Bezug auf unsere Sicherheit, die Reisewarnungen auf der Website des Auswärtigen Amts quellen über von Begriffen wie: terroristisch, volatil, professionelles Sicherheitskonzept, kriminelle Gewalt und gipfeln in Aussagen wie „Meiden Sie Bewegungen nach Einbruch der Dunkelheit.“ (Da musste ich schon etwas schmunzeln – wirklich jede Bewegung? Was ist mit dem Gang zu Getränkehandlungen – die dort gigantisch sind; und bewacht – um Bier zu kaufen, oder gar dem Griff zum Bier, ist ja auch eine Bewegung? Militärsprech eben.) Ganz zu schweigen von der unübersichtlichen Corona-Situation.
Meine Frau, die Theaterfotografin, sagte sofort, da komme sie mit, um alles zu dokumentieren, ich meinte aber, es reicht, wenn ein Elternteil bei einem Selbstmordattentat des IS umkommt. Das nächste Problem war, dass wir in der kurzen Zeit bis zum Beginn des Festivals keine Visa bekämen, aber wir wären schließlich Staatsgäste und hätten unsere schriftliche Einladung dabei. Schnell wurde versucht, mit den Organisatoren und technischen Leitern des Nationaltheaters Kontakt aufzunehmen, um herauszufinden, was vor Ort möglich sein würde. Glücklicherweise ist einer der jungen Lichttechniker in Wiesbaden irakstämmig, spricht beide Sprachen fließend und konnte übersetzen, aber so richtig auf einen grünen Zweig kam man nicht. Sicher war aber: die schwebenden Bühnenbildelemente waren nicht machbar, außerdem würden neue Licht- und Tontechniker das Stück „fahren“, die die Inszenierung nicht kannten. Kostüme müssten wir im Privatgepäck mitnehmen, viel private Kleidung brauche man nicht, es sei noch schön warm in Bagdad; wir spielen das Stück barfuß, zu Beginn tragen wir allerdings schwarze Boots, müssen wir aber auch nicht mitnehmen (das Gewicht!), denn Schuhe gibt’s auch im Irak. Am Ende aller Gespräche war mir klar, wenn sich die meisten dafür entscheiden, werde ich die Mehrheitsentscheidung mittragen. Trotz meiner Angst. Also, auf nach Bagdad.
Tilo und ich schrieben dann eine neue Fassung, wir verabschiedeten uns von ein paar Szenen, kürzten andere, änderten die Reihenfolge, und dann wurde durchgesprochen. Zwei Tage im Theaterfoyer (denn alle Bühnen und Probebühnen waren belegt) mit den neuen Technikern, drei Tage vor Abflug nach Bagdad. Das war wirklich alles mit ganz heißer Nadel. An darauffolgenden Sonntag dann der neunstündige Flug mit Qatar Airways samt Umstieg in Doha (Qatar). Am Flugschalter in Frankfurt hieß es, ohne Visum können Sie aber nicht einreisen, streng genommen können wir Sie gar nicht einchecken. Unser Dramaturg, der auch als Reiseleiter fungierte, musste viel erklären, die offizielle schriftliche Einladung wurde zu den Vorgesetzten durchgereicht, das Theaterfestival war allen völlig unbekannt, aber irgendwann wurde unserer unglaublichen Geschichte Glaube geschenkt und wir durften in den Sicherheitsbereich. In Bagdad das gleiche Spiel, 2:55 Ortszeit, es wurde viel diskutiert, telefoniert, die bewaffneten Sicherheitskräfte wurden mithinzugezogen, denn im Privatgepäck befanden sich der metallene Brustpanzer vom Schwedenkönig Gustav Adolf (Kostüm), schwarze Pigmente zum Abmischen der auswaschbaren Farbe, mit der wir auf der Bühne die – hoffentlich vorhandenen – Papierbahnen bemalen würden (verdächtiges Pulver), 1 Liter Theaterblut (sowieso verdächtig). Und niemand kannte das Internationale Theaterfestival! Zum Glück hatten wir einen Muttersprachler dabei, nicht vorstellbar, was wir ohne ihn getan hätten. Wir warteten sehr lange, bis wir alle unser Visum im Pass hatten, denn als wir an unserem Hotel, dem Al-Mansour-Hotel, in Bagdad ankamen, ging langsam die Sonne auf und der Muezzin rief zum ersten Gebet.
Am Nachmittag besuchten wir unsere erste Theatervorstellung „Supermarkt“ aus Syrien, eine Bearbeitung Dario Fos „Bezahlt wird nicht“. Wir staunten: es gibt keine Tickets, jeder, der möchte, kann ins Theater, der Saal des Al-Raschid-Theaters ist riesig, auch während der Vorstellung ein ständiges Kommen und Gehen, viel Zwischenapplaus, vereinzelt Zwischenrufe, es wird gefilmt, fotografiert, geSMSt, und kaum, aber doch, telefoniert. Am Ende dann kurzer heftiger Applaus, viele Zuschauer verlassen den Saal sehr schnell, aber ebenfalls sehr viele: stürmen die Bühne, reden mit den Schauspielern und machen Fotos. Das war schon ungewöhnlich. Dachten wir. Denn bei der Nachmittagsvorstellung am folgenden Tag passierte dasselbe, die Zuschauer waren sogar noch euphorischer, die irakische Inszenierung „Yes Godot“, eine Beckett-Paraphrase, war anscheinend voll mit aktuellen und politischen Anspielungen und traf den Nerv des einheimischen Publikums, wieder wurde die Bühne nach Vorstellungsende erobert.
Am Mittag hatten wir unsere Bühne im Nationaltheater begutachtet, die deutschen und irakischen Techniker hatten nach der Vorstellung am Abend vorher begonnen, den Bühnenraum vorzubereiten und überraschten uns mit einer Bühnenfläche voll Sand, mit hängenden Papierbahnen in vier Bühnenzügen, die Lichteinrichtung war annähernd original, der Ton und die Musik klangen nahezu perfekt. Sie hatten uns sogar einen Zug mit den unbedruckten Zeitungspapierbahnen eingerichtet, um das Papierverhalten zu testen, wenn wir darauf malten, die unteren Enden waren umgeklebt, damit sie schwerer fielen, und auch das Malen funktionierte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Während unserer Gesangsprobe auf der Bühne fiel dann der Strom aus, im gesamten Haus. Könnte das auch während unserer Vorstellung passieren? Natürlich! Das riesige Haus, das höchstens fünfmal im Jahr von freien Gruppen bespielt wird, ist in desolatem Zustand. Das ist besonders im Hinterbühnenbereich spürbar. Duschen: Fehlanzeige, Toiletten: kann man so eigentlich nicht nennen, Garderoben: unsere Gruppe sucht sich den am wenigsten heruntergekommenen Raum aus, in dem es funktionierende Steckdosen gibt. Trotzdem ist die Stimmung sehr gut, wir sind alle begeistert von der Gastfreundschaft, wir haben uns frei in Bagdad bewegt und schon jetzt viele Eindrücke gesammelt, nach unserer Vorstellung sind wir noch zwei Tage hier und werden weiterhin Theater aus dem arabischen Raum sehen und die Stadt erkunden.
Zwanzig Minuten vor Vorstellungsbeginn wird ein großer Plastiksack vorbeigebracht, darin alte Schuhe. Wundervollerweise finden alle ein passendes Paar. Unser TYLL am Abend fühlt sich dann fast original an, trotz Kürzungen, Umstellungen und vereinfachter Bühne. Ab der ersten Minute haben wir das Gefühl, das der vollbesetzte 1000 Personen fassende Zuschauerraum völlig konzentriert unserem Spiel folgt. Übertitel, geschrieben von unserem Dramaturgen, übersetzt von unserem Lichttechniker, fassen die gespielten Szenen auf arabisch zusammen und helfen sicherlich beim Verständnis. Nach einer Stunde und fünfzig Minuten Spielzeit fährt das Licht langsam herunter, wir Schauspieler sind in einem letzten großen Schlachtengemälde im Dreißigjährigen Krieg umgekommen und liegen im Sand, der westfälische Friede ist geschlossen und die beiden Schauspieler des alten und des jungen Tyll gehen nach hinten ins Dunkel ab. Es ist kurz still und dann bricht ein Orkan los, das Publikum jubelt und schreit, bald stehen alle und wir können es eigentlich nicht fassen. Wie haben wir die nur erreicht, auf welche Reise sind die da gerade mit uns gegangen? Wir verbeugen uns drei, viermal, nicht abgehen wurde uns gesagt, dann würden auch die Zuschauer gehen, und schon wird die Bühne gestürmt. Wir werden umarmt, fotografiert, Junge und Alte, Frauen wie Männer machen Selfies mit uns, und plötzlich stehen wir vor Kameras und Mikrofonen und sollen erzählen, wie es uns geht, wie wir den Abend erlebt haben und wie wir Bagdad finden. Wir sind vollkommen euphorisiert. Die Zuschauer, die englisch oder französisch sprechen, das sind nicht wenige, teilen ihre Begeisterung mit uns.
Und ich frage mich, was für Bedenken ich überhaupt hatte, wo kamen meine Zweifel und Ängste her? Nicht nur die Liebe und die Musik, auch die Theaterkunst scheint eine universelle Sprache zu sein. Uns und unseren Gastgebern wurde erlaubt und ermöglicht eine Brücke zu schlagen. Der Hunger nach Kultur und Theater hat Menschen zusammengebracht, die sich normalerweise nie begegnen könnten. Beim öffentlichen Kritikergespräch am nächsten Morgen wird dann tatsächlich sinngemäß gesagt: „Wenn wir unsere Schauspieler so gut ausbilden, können wir es wagen, unsere Politik zu kritisieren. Dann können wir unser Land verändern und dadurch die Welt.“ Uns Schauspielern ist klar geworden, wie relevant unser Beruf doch sein kann, und wir waren uns alle einig: Wir würden wieder hinfahren.